Die Angst vor der Endlosschleife

Jürgen Kuttners legendäre Berliner „Videoschnipselvorträge“ – jetzt in den Kammerspielen



Kann das mal jemand ausmachen, bitte? Seit zehn Minuten begleitet die immer gleiche nervtötende Musik die immer gleichen Bilder vorne auf der Leinwand. Auf diesen Bildern blättert jemand einen Schuhkatalog durch, immer wieder, ohne Variation. Gnade! Dann kommt auch noch dieser zappelige Mittvierziger in Jeans und Matrosenshirt auf die Bühne und sagt: „Wir haben einen total schwierigen Abend vor uns.“ Sein Anspruch sei, die Welt zu erklären; die Endlosschleife habe dabei die „irre dramaturgische Funktion“, die Zuschauer so zu nerven, dass danach alles nur besser werden könne. Das kann heiter werden.

Wird es auch, erstaunlicherweise. Denn ein Abend mit Jürgen Kuttner ist eine One-Man-Show der deutlich anderen Art. Das Prinzip ist schnell erklärt: „Ich stehe hier und rede wie ein Besessener“, dazwischen zeigt er Videoausschnitte. Damit ist alles gesagt – und gar nichts. Denn allein die Videoausschnitte sind so grauslich komisch, dass einem ganz schlecht werden könnte: Frauen beim Testen von Autofeuerlöschern, pubertierende Jünglinge beim Teetrinken mit der Mutter ihrer Tanzstundenpartnerin, Cindy und Bert in einem Horror-Song über den Hund von Baskerville, Joseph Beuys als Sänger in einem Werbespot der Grünen. Alles Ausschnitte aus dem Fernsehalltag der 60er, 70er und 80er Jahre. Unglaublich fern wirkende Bilder, die gar nicht zur eigenen Biografie zu gehören scheinen. „Wir leben in einer Zeit der Geschichtslosigkeit“, sagt Jürgen Kuttner dazu, „in Deutschland kann man sich heute kaum mehr vorstellen, wie hier die kulturelle Situation vor 30 Jahren war.“

Deshalb gräbt der 43-jährige Berliner solche Bilder wieder aus – und kommentiert sie. Aufklärung im höchst altmodischen Sinne betreibt er damit, Aufklärung nicht nur hinsichtlich der Vergangenheit, sondern auch der Gegenwart. Im Fall München bedeutet dies: die Gegenwart des Theaters. Denn Kuttner hat den Auftrag, in dieser Saison den Spielplan der Kammerspiele zu kommentieren. Will heißen: assoziativ mit den abstrusesten Ideen zu verknüpfen. Für seinen ersten Abend im November nahm Kuttner sich zum Beispiel das Thema Frauen vor: erzählte anhand einer biederen Ratgebersendung (Thema: Rauschkakteen) über Achternbuschs „Daphne von Andechs“, verglich Euripides’ „Alkestis“ mit den bürgerlichen Konventionen bei der Tanzstunde, beschrieb Sarah Kanes Selbstmord-Drama „4.48 Psychose“ mit einem Video-Ausschnitt, der den DDR-Alltag einer allein erziehenden Glühlampen-Arbeiterin zeigt, die jeden Morgen um fünf Uhr ihre Kinder aus dem Bett scheucht: „Wenn ich der Arbeiterin die Maschine wegnehme und dann noch die Kinder, dann ist 4Uhr 48. Dann sind wir bei Sarah Kane.“

Diese Szene war vielleicht die eindringlichste an jenem Abend; sie hat auch Jürgen Kuttner selbst am besten gefallen. War ja schließlich alles improvisiert; er hatte zwar vorher mit einem Kollegen die Filmszenen ausgesucht und wie immer ein paar Stichworte und Thesen notiert, „doch was ich wirklich sage, passiert on stage“. Sein Programm funktioniere nur in der Unmittelbarkeit, glaubt der Mann mit der dunklen Wuschelmähne und dem Ist-mir- doch-egal-Dreitagebart; in der Wiederholung lasse sich die Naivität nicht mehr herstellen. „Ick arbeete aus Notwehr.“

Muss wohl so sein. Denn als Jürgen Kuttner diese Form von Pseudo- Vorträgen 1996 das erste Mal an Frank Castorfs Volksbühne in Berlin-Mitte ausprobierte, sollte sie eigentlich nur eine halbe Stunde dauern. Es waren dann zwei, „ich war erschüttert und der Saal atemlos. Das war eine eigentümliche Explosion.“ Inzwischen hat er an der Volksbühne 32 dieser „Videoschnipselvorträge“ gehalten; das Theater ist immer voll, Kuttner längst Kult. Am Anfang ging es unter dem Titel „Von Mainz bis an die Memel“ vor allem um den Vergleich von Ost- und Westbildern, „das hat einen Nerv getroffen, denn für bestimmte Diskussionen gibt es keine Öffentlichkeit“. Ein paar Mal erst war Kuttner damit im Westen unterwegs, „da herrschte die erste halbe Stunde immer Fassungslosigkeit“. Schon allein die Berliner Schnauze! „Bei diesem Unterschicht-Dialekt erwartet man ja keine Bildung, sondern jemanden von der Straßenreinigung.“

Weit gefehlt. Jürgen Kuttner, 1958 in Berlin geboren, hat Kulturwissenschaften an der Humboldt-Universität studiert – beim Philosophen Wolfgang Heise, dem „Durchlauferhitzer“ für alle Intellektuellen der DDR von Heiner Müller bis Christa Wolf. Er hat eine Doktorarbeit über Massenkultur geschrieben und hätte fast beim Verband Bildender Künstler Karriere gemacht. Fast. Denn wie überall hat Jürgen Kuttner nach ein paar Jahren Angst bekommen, sich zu sehr von einer Sache vereinnahmen zu lassen. So hat er lieber mit ein paar Freunden aus der Liedermacher-Szene eine „linksradikale Blasmusik“ gegründet, mit der sie gleichermaßen bei FDJ-Veranstaltungen und in Kirchenkreisen aufgetreten sind. Die Folge war, „dass ich für einen genialen Manager gehalten wurde“,was ihm nach dem Mauerfall die Mitarbeit bei der Ost- taz eintrug. Irgendwie kam er dann – genialer Manager eben – zum Radio und Fernsehen; bei der Jugendwelle „Fritz“ moderiert er als dienstältester Sprecher immer noch. Die feste Stelle beim ORB jedoch hat er inzwischen längst gekündigt: die alte Angst.

Neugier und Offenheit als Lebensmotiv – und das in einer Zeit, in der den meisten Menschen ihre Sicherheit über alles geht? Mag sein, dass Kuttners Prägung mit der spezifischen Sozialisierung in der einstigen Prenzlauer-Berg- Szene zu tun hat: „Man kannte damals keine existenziellen Ängste, man kam immer irgendwie durch, auch ohne mitzuspielen.“ Kein Wunder, dass für ihn in der DDR das Schlimmste die Erziehung zum Opportunismus war: „Das war das Schreckliche, nicht die Mauer.“Was nicht bedeutet, dass Kuttner in Ostalgie schwelgt, im Gegenteil: Die verklärende Sehnsucht nach den alten Zeiten hat für ihn etwas Dumpfes, so wie alles bornierte Beharren auf Traditionalismen: „Das ist doch wie bei den Vertriebenenfeiern der Sudetendeutschen.“

Auch solche Haltungen machen ihm Angst. Man könnte es vielleicht die Angst vor der Endlosschleife nennen. Und davor, dass niemand kommt und das Band anhält. (Heute, 20 Uhr, Neues Haus.)

ANTJE WEBER



Freitag, 21. Dezember 2001
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