Der Tagesspiegel vom 9. Oktober 1999
Vergleich DDR - Indien

Schwitzfleck am Ende des Ganges

Jürgen Kuttners lehhreicher Videoschnipselvortrag über Indien und die DDR in der Berliner Volksbühne
Sabine Vogel



Geht das? Kann man die DDR und Indien vergleichen? Kulturwissenschaftler Kuttner trippelt hypernervös hinter dem Mikrofon herum, das zu hoch für ihn eingestellt ist. Es geht. Bisher sind seine Vorträge in der Volksbühne - meist im Verhältnis halbe Stunde Fernsehschnipsel / zwei Stunden Unterrichtung, Betrachtung, alltagsethnologische Aufklärung - stets ausverkauft gewesen. Zusammen mit seinem Mitstreiter André Meier, der im Sommer selbst mit einer Zusammenschnipselung der bisherigen Vorträge durch Brandenburg getourt war, produziert Jürgen Kuttner seit Jahren das Wunder unterhaltsamer Aufklärung. Zu Beginn und als erklärt nationales DDR-Selbstbewußtseinsschulungskonzept sollten seine lehrreichen Videoschnipselvorträge einmalige Randbemerkungen zur deutschen Einheit sein. Das Programm erwies sich als massenwirksam, in Fernseharchiven fanden sich immer mehr abstrus interessante Dinge, bewegte und bewegende Zeugen der ostwestlichen Mentalitätsgeschichte, da ging man in Serie. Zu befürchten war nur, daß es sich Kuttner, einer der wenigen westkompatiblen Ostidentifiktionsstars, zu gemütlich auf der Ost-West-Schiene machen würde. Doch während andere den 50. Jahrestag der im Umschwung verblichenen DDR zeitgleich im Kino International mit der Premiere der "Sonnenallee" samt Ostalgieparty begingen, ist Kuttner an diesem Abend erst richtig international geworden.
Der Osten endet nicht an der Entweder-Oder Grenze; exotisch war für Kuttner/Meier der Alltag und die eigene, übers Fernsehen erfahrene Sozialisation sowieso. Zur Feier der Globalisierung des empirischen Kulturvergleichs hatte er sich diesmal Gäste eingeladen. Der Regisseur Riyad Wadia war aus Bombay vorbeigekommen. Vor fünf Jahren sorgte sein Dokumentarfilm über seine Tante, die Stuntqueen und Kinolegende "Fearless Nadia", die in den 30er / 40er Jahren größte Erfolge gefeiert hatte, auf der Berlinale für Aufsehen. Dorothee Wenner wiederum hat gerade ein schönes Buch über die indische Kinolegende geschrieben ("Zorros blonde Schwester", Ullstein Verlag) und kam für Kuttners Kolleg aus Kreuzberg angereist. Nicht ost- und westdeutsche TV-Schnipsel trafen also diesmal einander erklärend oder anfeuernd aufeinander; stattdessen wurde der integrierte Musikclip aus dreistündigen Epen des Bombay-Kinos mit Schlagerereinlagen aus Ulbrichts Zeiten kombiniert. Zur Präzision wurde der Forschungsgegenstand motivisch eingegrenzt auf Themenschwerpunkte wie nationale Gründungsmythen, Geschlechterverhältnisse, Autos, Arbeitsplatz, Stadtkonzeptionen, Tanzstile. In allen Musikclip-Beispielen wurde der Einfluß des Westens, der Fortschritt beziehungsweise die propagandistische Gegenidentität zwischen Tradition und Moderne anschaulich vorgeführt.
Kuttner in seinem T-Shirt mit großem "K" gab medienkritische Rezeptions-Hinweise und übersetzte die eleganten historischen Ausführungen Riyad Wadias ins eigene Idiom. Wie immer ging es um die Grundfrage aller aktuellen Diskurse: Wie anders oder wie gleich ist uns das Fremde? Wie ging die Westernisierung in der DDR und in Bombay ikonografisch vonstatten? Wie eigneten sich die Kulturen Indiens und der DDR das Andere an - wie exotisch ist das Eigene? Gibt es strukturelle Analogien, sind sie zu erkennen? Indien und die kleine DDR - zwei junge Staaten; Ulbricht und Nehru - fasziniert von Stalin. Hier wie dort verband man gern Unterhaltendes mit dem pädagogisch Nützlichen. In Indien ist das Massenmedium der Volkserziehung der ausufernde, operettenbunte Film, in der DDR war's das SW-Fernsehen. Zwar wurden Filmschaffende beider Länder von der russischen Kinematographie beeinflußt, doch während sich das Lernziel in der DDR gern vordrängte (und dort, rückblickend, für Komik sorgte), konnte es sich in Bollywood kaum gegen den Bilderreichtum des Mythenschatzes durchsetzen.
Kompliziert gesagt: Westliche Dekadenz, wie sie von der singenden First Lady des indischen Films im doofen, betrunkenen Hippiemädchen aus Goa denunziert wird, verwandelt sich bei ihr selbst in den Sex der Hybridität, der Zwitterhaftigkeit zwischen den Kulturen. Ulala! Dagegen wirkt die Einstudierung des "Letkiss" aus Finnland - ein noch absurderer Tanz als der Lipzi, Ulbrichts Tanz-Antwort auf die Popkultur - in einer Ost-Tanzschule hausbacken wie eine Hellerau-Schrankwand. Nur wenn es darum geht, den Arbeitsplatz zu verklären, kann die DDR durch Einbeziehung eines Minenarbeiterchors im Kalischacht imponieren. Und wenn das popelige Berlin - "Es ist sieben und es sind noch Leute auf der Straße!" - im Gegenschnitt aller vorhandener Alex-Reklamen mit blinkendem "Schnell-Imbiß" und "Kleidung für Alle" zur Metropole gestylt wird: Dann erkennen wir uns wieder.
Kuttners Leistung besteht darin, die Wahrnehmung auf Details unserer Fernsehgeschichte zu leiten. Schwitzfleck im Hintergrund, pathetische Diagonalen des Bildaufbaus, der Hegelsche Beischritt. Im Dialog mit den ebenso pointierten Einführungen und schrillen Materialien des indischen Riyad enstand eine furiose Talkshow des globalen Kulturtransfers. Angesichts der Schlagerbeispiele aus der DDR kann "keiner sagen, die in Bollywood sind durchgeknallt." Am Ende gab's wie immer die Hommage an den einzigen Helden Westdeutschlands: den herzergreifenden Wahlkampfclip der Grünen mit BAP und Beuys als mikrofonwirbelndem Leadsänger: "Wir wollen Sonne statt Reagan". Das ist mittlerweile die Kulthymne der Kuttner-Gemeinde. Am Buffet kokelten Räucherstäbchen, die in einer brandenburgischen Kartoffel steckten.



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