Rätselhaftes Serbien


Die Sonne scheint, der Flieder blüht und der Mann, der uns vom Flughafen in Belgrads Zentrum fährt, trägt nur ein T-Shirt. Wir haben lange Unterhosen im Koffer. Und warme Socken auch. Weil was wir bisher vom Balkan sahen, vom Bildschirm kam und ein wüster Flickenteppich war, auf dem sich dick eingemummte Flüchtlinge von A nach B und wieder zurück bewegten, während Bomben vom Himmel fielen und Panzer über graue Felder rollten, aus denen man hin und wieder halbverweste Leichen herauszog. Alles irgendwie frostig. Gut inzwischen, das wussten wir natürlich, hatte auch hier die Demokratie gesiegt, waren Wind, Wetter, Wehrkraft und Wirtschaft nicht mehr in der Hand dieses teigig kleinen Mannes, der uns - untersichtig fotografiert - ein wenig an Benito Mussolini erinnert hat und jetzt in Den Haag sitzt, weil seine Untertanen es versäumt hatten, ihn, wie weiland die Italiener ihren Duce, im revolutionären Rausch selbst zu richten. Und nun haben sie den Salat. Denn statt tot mit dem Kopf nach unten in Belgrad, hängt er jetzt putzmunter und erhobenen Hauptes in diesem sonderbaren Tribunal herum und erklärt altertümlich kostümierten Juristen, dass sie keine Ahnung hätten, von dem, was im Südosten des alten Europas die Völkerschaften mit archaischer Verve mehr als zehn Jahre lang über einander herfallen ließ. Ein zwei Tage waren die Kameras der Welt auf ihn gerichtet, wurden seine Sätze bruchstückhaft zitiert und unter polemischen Kommentaren begraben. Dann zogen die Übertragungswagen der großen TV-Stationen weiter. Das letzte, was wir von dem holländischen Weltengericht hörten, war, dass in seinen Mauern Fritten Feuer fingen.
Inzwischen arbeitet die Kantine wieder und die Gerechtigkeit nimmt ihren Lauf. Dachten wir wenigstens, bis der Schriftsteller Leon de Winter uns erzählte, dass er dem Monster in die Augen gesehen hätte. Der Holländer und Jude steckte als junger Mann vor 25 Jahren für Hans-Jürgen Syberberg Puppen in SS-Uniformen. "Hitler, ein Film aus Deutschland" hieß das Werk. Und wie einst Syberberg, der heute in Vorpommern das Gut seines Vaters rekultiviert, glaubt auch de Winter nicht, dass sich das Destillat des Bösen so einfach in der leiblichen Hülle eines Einzelnen finden und juristisch entsorgen lässt.
"Er hat eine Wahrheit bei sich", sagt de Winter über den Angeklagten Milosevic, weil der nicht müde wird mit dem Finger auf den Westen zu zeigen. Wir legen das Gesicht in Falten und der Dichter erinnert uns, an die Schadenfreude, die in Deutschland, Österreich und anderswo aufkam, als Ende der achtziger Jahre Titos Imperium zu zerbröseln begann. Jeder dachte anfänglich, er könne auf dem Balkan sein eigenes Süppchen kochen, doch dann ist das Feuer außer Kontrolle geraten: "Wir hatten alle das große A-Wort im Kopf und haben es trotzdem zugelassen".
Auch dass noch, Auschwitz! Kein Wunder also, dass wir nicht an Sonnebrille und Sommerjacke dachten, als wir beschlossen, in Slobos Heimat zu reisen, um zu hören und zu sehen, was der Serbe so denkt, über uns und sich, die Schuld und Den Haag. Der erste Serbe den wir sprechen wollen, ist eine Serbin, jung, schön, erfolgreich und leider nicht bereit, sich mit uns einzulassen. "Darüber hat sie absolut keine Lust, mehr zu reden", lässt uns die Dramatikerin Biljana Srbljanovic über eine Freundin ausrichten. Dafür haben wir natürlich Verständnis, jedenfalls so lange bis den Wiener "Standard" aufschlagen und aus ihrer Feder die Klage darüber lesen müssen, dass das für ihr Land so "schicksalhafte" Thema Milosevic für "die Weltöffentlichkeit schon ganz verbraucht, uninteressant, veraltet ist."
Rätselhaftes Serbien denken wir oder einfach nur Zicke und gehen ins Cafe. Unser Belgrader location-scout bestellt Pizza und fragt, warum wir auf der Liste mit den Wunschzielen, die wir ihm zukommen ließen, gleich hinter "1. Kriegstrümmer (NATO-Bomben)""2. Tito-Denkmal" steht. Er jedenfalls kenne hier keins und auch der Kellner schüttelt den Kopf, gibt aber dann den Witz zum besten, wo Titos Frau von einer Jugendfreundin Besuch bekommt, ihr das Album mit ihren Dutzenden von Sommer-, Herbst- und Winterresidenzen zeigt und dann schließlich sagt, stell dir mal vor, wie reich wir erst wären, wenn ich auch noch gearbeitet hätte.
Fast vierzig Jahre hat Tito dieses Land regiert und mit sicherer Hand sozialistisch aber blockfrei durch den kalten Krieg gezogen. Reisen durften seine Untertanen, sogar Coca-Cola trinken und trotzdem ist der Mann, zwei Jahrzehnte nach seinem Tod nur noch eine Lachnummer. Selbst Milosevic hat ihn nicht respektiert! Das erklärt uns jedenfalls eine Mitarbeiterin des am Stadtrand gelegenen Josip Broz Tito Memorial Centre, das wir am nächsten Tag ansteuern, weil wir, unter Ulbricht und Honecker aufgewachsen, das lästerliche Benehmen unserer Ex-Jugoslawen doch irgendwie zu despektierlich finden. Die Anlage, die ein Museum, Titos Grabstätte und einen Park umfasst, wurde durch Milosevic mit einer riesigen Ziegelwand durchtrennt. Dahinter steht Titos Residenz, die später Milosevic bezog. Und weil Slobo, der Retter Serbiens, bei Kaffee, Cognac oder Slibowitz nicht immer auf den dahingegangenen Vater des dahingegangenen Jugoslawiens schauen wollte ließ er die schöne Sichtachse einfach zumauern.
So blieben wenigstens die Scheiben des Memorial Centre heil, als im Frühjahr 1999 NATO-Bomber Milosevics Behausung unter Beschuss nahmen. Die Zerstörungen sind bis heut nicht beseitigt, was sich in Belgrad über fast alle Gebäude sagen lässt, die im Kosovo-Befriedungsfeldzug von westlichen Kampfpiloten ins Visier genommen wurden. Überhaupt der Krieg. Ein serbischer Kameramann lädt uns ein, die Bilder anzusehen, die er während der Angriffsnächte vom Dach eines, überwiegend von westlichen Medien genutzten, Bürohauses aufgenommen hat. Wir hören deutsche und englische Wortfetzen aus dem Hintergrund, wir hören Techno-Musik, während die Kamera zeigt, wie die Parteizentrale der Milosevic-Sozialisten in zwei Angriffswellen attackiert wird. Erst brennt der Sockel, dann geht die oberen Geschosse in Flammen auf. "Geil!"ruft irgendwer mit süddeutscher Zunge verzückt aus dem Off.
1500 tote Zivilisten und Soldaten, so sagt man uns, hat dieser Krieg auf serbischer Seite gekostet. 3000 Albaner, UCK oder Zivilisten, sollen im Kosovo durch Milosevics Leute getötet worden sein.
Opfer, die, so behauptet man in Den Haag, nicht zu beklagen wären, hätte es nicht eine Ideologie gegeben, auf die sich Milosevic stützen konnte, in deren Namen er sein ethnisch reines Großserbien herbei zu schießen, herbei zu vergewaltigen und herbei zu säubern versuchte. Also folgen wir dem Fingerzeig des Tribunals und gehen in die Knez Mihaljova, eine Prachtstraße, an der auch die Serbische Akademie der Wissenschaft und Künste residiert. Hier soll, so sagt die Anklage, im Jahr 1986 jenes Pamphlet verfasst worden sein, dass Milosevic quasi als sein "Mein Kampf" diente. Im Erdgeschoss des alterwürdigen Akademiegebäudes gibt es in der hauseigenen Galerie eine Ausstellung mit alten serbischen Uniformen zu sehen. Schön denken wir, das passt und klopfen an die dicke hölzerne Tür des Präsidenten. Dejan Medakovic ist ein älterer freundlicher Mann und heißt uns auf Wienerdeutsch willkommen. Der Historiker entstammt einer alten Gelehrtendynastie. Sein Urgroßvater hätte bei Hegel promoviert, erzählt er stolz, dann spricht er über Goethe und Herder und den Jammer darüber, dass die Deutschen heute einfach nicht in der Lage seien, ihre Führungsposition in Europa intellektuell zu flankieren. Vor zwei Jahren hat Medakovic, die Laudatio auf Peter Handke gehalten, als der in Belgrad zum "Serbischen Ritter" geschlagen wurde. Die Ehrung sei ein Zeichen der Anerkennung für die "Tapferkeit" des Autors bei der Erläuterung der Tragödie Serbiens angesichts der "bestialischen und brutalen" NATO-Aggression, sagte er damals und würde das vermutlich heute auch noch tun. Uns aber interessiert jenes ominöse Memorandum von dem in Den Haag die Rede war und das in einer Zeit entstand, als er als Generalsekretär der Akademie fungierte. 1986, so holt Medakovic aus, hätten Kroaten und Slowenen sich daran gemacht, ihren Ausstieg aus dem Tito- Jugoslawien vorzubereiten. Nur deshalb hätte man sich zusammengesetzt und aufgeschrieben, welche "vor allem wirtschaftliche" Folgen dies für die Serben hätte. Der Bund der Kommunisten, zu dessen Führungsspitze damals auch Milosevic gehörte, glaubte noch, den Vielvölkerstaat retten zu können und machte, so klagt Medakovic, Zugeständnis um Zugeständnis. Jugoslawische Geheimdienstleute, Kroaten, so raunt der Präsident, hätten aus dem Büro der Akademie jenes unfertige und unbestätigte Grundsatzpapier entwendet und der Öffentlichkeit zugespielt, um zu belegen, dass auch die Serben dem Separatismus frönten. Die Partei tobte und der Westen feierte die antibolschewistische Unbeugsamkeit der Akademie. Deshalb, so kichert der Präsident, der in jenen Jahren mit dem Großen Verdienstkreuz der BRD und dem Österreichischen Verdienstorden ausgezeichnet wurde, ist es ein Witz, dass er und seine Kollegen, heute als geistige Brandstifter der Balkantragödie angeprangert werden. Kein Wort stünde in diesem Memorandum von Vertreibung und ethnischer Säuberung. Nein, da hat er recht. Sogar der Schweizer Presserat hat das bestätigt. Aber dafür Forderungen, wie die nach der "Herstellung der vollen nationalen und kulturellen Integrität des serbischen Volkes, unabhängig davon, in welcher Republik oder Provinz es sich befinden mag."
Und natürlich hat die Akademie nicht protestiert, als sich der zum Nationalisten gewendete Milosevic 1989 ins autonome Kosovo begab und der serbischen Minderheit zurief: "Niemand wird euch mehr schlagen!"Was wollen sie, fragt uns der Präsident, als wir auf solche Kausalitäten verweisen: "Würde es ihre Regierung erlauben, wenn in Bayern plötzlich Terroristen anfangen würden, für die Abtrennung von Deutschland zu bomben ?"Wir zucken mit den Schultern. Einerseits, weil uns der Gedanke reichlich abwegig erscheint und zweitens, weil die Frage, selbst rhetorisch gemeint, schmerzhaft zeigt, wie weit Europa in den letzten Jahren mental auseinandergedriftet ist.
"Das ist Quatsch!", bekommen wir ein paar Stunden später vom Chef des Senders B 92 zu hören, als wir ihn nach der vermeintlichen Initialwirkung des Akademiepapiers fragen, "Milosevic hat seine Politik aus dem Bauch heraus betrieben."Und dann beklagt Veran Matic, der zu jenen integren Oppositionellen gehört, die uns das deutsche Fernsehen bis zum Sturz Milosevics beinahe täglich präsentierte, die Wirkung, die das Den Haager Tribunal bislang unter seinen Landsleuten hätte. Unvorbereitet wirke die Anklage, viele Zeugen unglaubhaft, Milosevic scheint die Verhandlung zu dominieren.... "Eine Mehrheit will zwar den Kerl noch immer verurteilt wissen, aber zugleich wünschen sich die Leute hier auch, dass das Tribunal zum Debakel wird."Matic muss es wissen, sein Sender überträgt den Prozess life und in voller Länge und dies obwohl er die Befürchtung hegt, dass Den Haag der innerserbischen Auseinandersetzung mit der jüngsten Vergangenheit alles andere als zuträglich ist. Denn so etwas gibt es auch und sogar einmal wöchentlich im B92 Programm. "Wahrheit, Verantwortung, Versöhnung", heißt die Sendung, die den blutigen Zerfall Jugoslawiens aufarbeitet und dabei nicht umhin kommt, die Serben auch mit jenen Verbrechen zu konfrontieren, die in ihrem Namen, von ihren Leuten, begangen worden sind. Inzwischen ist die Sendung nicht nur die am meisten geschmähte im Programm, sondern auch die, mit den besten Einschaltquoten. Na also, denken wir, fahren ins Hotel und packen. Am Flughafen öffnet eine Zöllnerin unseren Koffer, sieht Socken und Unterhosen und fragt, wohin wir den fliegen. "Deutschland", sagen wir und sie nickt: "Ja, da brauch man warme Sachen!"

André Meier

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